Montag, 18. März 2013
Glaube ist kein Gefühl. Oder etwa doch?

Als ich noch relativ jung im Glauben war, kam ich mit dem Motto „Glaube ist kein Gefühl“ in Kontakt. Dazu habe ich wenigstens ein Buch gelesen, und das hat mich gelehrt, dass Glaube ist, Gottes Wort zu lesen bzw. (z. B. in einer Predigt) zu hören, es für wahr zu halten (weil es ja Gottes Wort ist, es steht ja geschrieben) und im Gehorsam entsprechend zu denken und zu handeln, ganz gleich, wie man sich dabei fühlt.

Es ist richtig, dass unser Fühlen, Denken und Wollen (unsere Seele) dem Wort Gottes entgegengesetzt sein kann, von Gottes Wahrheit abweichen kann, d. h. dass wir einen Konflikt zwischen Gottes Willen und dem Streben unserer Seele haben können, und dann sagt uns die Bibel: „Verlass dich auf den Herrn von ganzem Herzen und verlass dich nicht auf deinen Verstand!“ (Sprüche 3,5).

Wenn das gelegentlich vorkommt, kann es durchaus in Ordnung sein, das Verlangen der Seele einfach mal zu übergehen und sich auf das zu konzentrieren, was man als Gottes Willen erkannt hat. Es muss ja auch gar nicht sein, dass das, was wir gefühlsmäßig wollen, immer schlecht ist; es kann einfach sein, dass es nicht in die momentane Situation passt, so wie du z. B. morgens noch müde sein kannst, wenn der Wecker klingelt, aber du stehst dann trotzdem auf und gehst zur Arbeit. Wenn solche Situationen aber häufig auftreten, muss man nachforschen, wieso das so ist, denn eigentlich wollte Gott, dass wir Ihm aus ganzem Herzen und mit aller Kraft dienen (5.Mose 6,5; Matthäus 22,37) und nicht immer gegen die Widerstände in unserem Herz. Die Ursachen für solche Konflikte können unterschiedlich sein, z. B. dass man aufgrund schlechter früherer Erfahrungen eine Abneigung gegen gewisse Dinge hat, die in Gottes Willen sind, oder aber, dass das, was man in dieser Situation für Gottes Willen hält, gar nicht Gottes Wille ist und man es irgendwie falsch verstanden hat.

Wenn man sich öfter in solchen Konflikten befindet und nicht in der Lage ist, sie auf eine gute Art auszuräumen, kann man diese Situationen eigentlich nur auf zwei Arten klären: Entweder man unterdrückt das Reden Gottes, oder man unterdrückt seine eigenen Gefühle und Bedürfnisse. Ein gläubiger Mensch, der Gott gehorchen will und diese Konfliktsituationen nicht auf eine gute Art auflösen kann, wird stark zu dem zweiten Ausweg neigen, sich selbst zu unterdrücken. Die Folgen sind fatal, man landet je nach Umständen und Persönlichkeit in Depression, Burnout oder auch in Hyperaktivität, manischem Getriebensein, extremen Übertreibungen usw.

Als ich vor Jahren in dieser Falle saß, hatte ich eine psychische Kondition, die mich darin unterstützte, diesen Weg der falschen Selbstverleugnung zu gehen. (Ich bin noch nicht komplett wiederhergestellt, aber damals war das noch viel stärker, als es heute ist.) Ich merkte zwar auch, wie mir nach und nach die Freude am Herrn abhanden kam, aber verglichen mit anderen, die den gleichen Weg zu gehen versuchten, lief es bei mir noch recht gut. Was mir half, damit einigermaßen klar zu kommen, war meine Gefühlsblindheit (in der Fachsprache Alexithymie genannt), d. h. meine Gefühle und damit viele meiner Bedürfnisse waren mir gar nicht so richtig bewusst, also brauchte ich auch nicht so viel bewusst zu unterdrücken wie andere. Das wirkt nach außen hin sehr geistlich, weil diszipliniert, ist aber in Wirklichkeit eine Art Gefühlskälte (psychologisch gesehen eine Dissoziation, eine Abspaltung der Gefühle).

Die Folgen dieser Störung sind aber nicht nur für den Glauben, die Beziehung zu Gott, sondern auch für die Beziehungen zu anderen Menschen fatal, denn wie will ich meiner Frau, meinem Kind, meinen Geschwistern in der Gemeinde, meinen Freunden, … von Herz zu Herz begegnen, wenn ich mein eigenes Herz, meine eigenen Gefühle nicht kenne, wenn ich keine Empathie haben kann, wenn ich die Gefühle anderer nicht wahrnehmen kann, … Solche Beziehungen können sehr frustrierend sein, besonders für die jeweiligen Ehepartner. Meine Frau konnte mich nicht verstehen, weil ich in vielem so blind war, und ich konnte sie nicht verstehen, weil sie sich von so vielem beeindrucken ließ, das ich noch nicht einmal wahrnahm; man kann sich leicht ausmalen, welche Entfremdung das zwischen uns brachte. Auf das alles näher einzugehen, würde aber den Rahmen dieses Beitrags bei Weitem sprengen. Denjenigen, die sich näher mit dieser Thematik befassen wollen, möchte ich das Buch „Glaubensriesen – Seelenzwerge? Geistliches Wachstum und emotionale Reife“ von Peter Scazzero (Brunnen-Verlag) empfehlen. Ansonsten findet man auch im Internet Beiträge zum Thema „Alexithymie“ oder „Gefühlsblindheit“; als Einstieg eignet sich dieser Blog.

Das weiß ich heute. Aber was da in mir vorging, erkannte damals weder ich noch andere; im Gegenteil, ich wurde gelobt und bewundert, weil mein Glaube so stark war, weil ich mich nicht so leicht von etwas beeindrucken ließ und einfach (heute möchte ich sagen: stur) in dem voranging, was ich für richtig hielt. Damit will ich nicht sagen, dass ich gar keinen Glauben hatte, sondern nur diese psychologische / neurologische Störung; nein, ich hatte schon echten Glauben, aber diese Gefühlsblindheit half mir (scheinbar) in Situationen weiter, in denen „normale“ Menschen größere Schwierigkeiten mit ihrem Glauben hatten.

Bedeutet das jetzt, dass es einem im Glaubensleben hilft, wenn man irgendwie „verrückt“ oder „abnormal“ ist, und dass ein „normaler“ Mensch gar nicht so richtig glauben kann?

Nein, Gott ist unser Arzt (2.Mose 15,26), in Jesu Wunden sind wir geheilt (Jesaja 53,5), und Gott braucht es absolut nicht, dass wir irgendwie krank oder abnormal sind, damit wir Ihm besser glauben können. Das Problem damals war vielmehr die Art, wie ich (und viele andere, die ich kannte, ebenfalls) meinen Glauben verstand. Mein Glaube war regelbasiert. Das bedeutet, ich versuchte, Gottes Willen (Seine Maßstäbe, Seine Gebote, Seine Regeln) herauszufinden und entsprechend zu denken und zu leben. Mein Glaube funktionierte auf der Basis von Befehl und Gehorsam, etwa wie auf dem Kasernenhof, wo der Feldwebel befiehlt und der Rekrut springt, um es auszuführen.

Nun ist es absolut nicht verkehrt, Gott gehorsam zu sein; im Gegenteil, Gott erwartet unseren Gehorsam. Die Frage ist nur: Wie nehme ich Gottes Willen wahr? Und wie setze ich ihn in die Praxis um? Letztlich steht dahinter die Frage: Wie ist meine Beziehung zu Gott? Ist Gott mein Herr und ich Sein Sklave? Oder ist Er mein Vater und ich Sein Sohn (bzw. Seine Tochter)? Ist die Beziehung zwischen Ihm und mir eine Dienstbeziehung, die auf der Ebene von Befehl und Gehorsam funktioniert, oder eine Liebesbeziehung von Herz zu Herz, in der Er zwar immer noch das Sagen hat, die Kommunikation aber auf der Ebene von Herz zu Herz stattfindet?

Im Lauf der Zeit hat sich die Beziehung zwischen Gott und mir von einer Dienstbeziehung immer mehr zu einer Herzensbeziehung entwickelt. Gehorsam gegenüber dem, was Er zu mir sagt (bzw. was ich als Sein Reden aufgefasst habe und auffasse), ist mir immer noch so wichtig wie damals, eher noch wichtiger. Aber Er redet jetzt anders zu mir. Damals war Gottes Reden für mich das, was ich in der Bibel oder in christlichen Büchern las oder in Predigten hörte, und das kam vor allem in meinen Verstand, in mein Denken und von da aus oft direkt in mein Tun, in mein Verhalten, meist ohne dass es etwas in meinem Inneren (meinem Herz) verändert hätte. Heute spricht Er vor allem in mein Herz. Das kann durch direkte Eindrücke sein, die ich in meinem Inneren empfange, ist aber auch immer noch sehr oft über die Bibel, durch christliche Bücher oder auch Blogs, oder aus Predigten. Der wesentliche Unterschied ist, dass es jetzt in meinem Herz ankommt, bevor es mein Tun beeinflusst. Manchmal landet Gottes Reden zu mir direkt in meinem Herz und beeinflusst von daher mein Denken, manchmal landet es auch in meinem Verstand, so dass ich zuerst darüber nachdenken muss, bevor es mein Herz ergreift, aber heute ist es normal, dass es mein Herz ergreift, was früher die Ausnahme war.

Im Gegensatz zu früher ist mir aber meine Gefühlsblindheit (bzw. was noch davon übrig ist) keine Hilfe im Glauben mehr, sondern ein großes Hindernis. Sie stört meine Kommunikation mit Gott genau so wie meine Kommunikation mit meiner Frau, mit Verwandten und mit Freunden. Denn während früher in meinem auf Regeln basierenden Glauben, der vor allem über den Verstand ablief, Gefühle meist nur hinderlich waren, sind heute meine Gefühle, meine Empfindungen, meine inneren Wahrnehmungen oft genau das, wodurch Gott zu mir sprechen will, und wenn ich das ausblende bzw. nicht wahrnehmen kann, kann ich nicht wahrnehmen, was Er mir auf diesem Weg sagen will. Daran erkenne ich auch, dass Gott uns also nicht so geschaffen hat, dass wir irgendwie „gestört“ oder „abnormal“ sein müssen, um Ihn zu verstehen und um mit Ihm zu leben, sondern dass diese Gemeinschaft zwischen Ihm und uns am besten funktioniert, wenn in uns alles heil und „normal“ ist, so wie Er uns ursprünglich geplant hat.

Ist jetzt also unser Glaube ein Gefühl oder doch nicht? Nein, unser Glaube ist mehr als unser Gefühl, mehr als unsere innere Wahrnehmung. Nicht alles, was wir innerlich empfinden, nicht alles, was innerlich in uns hochkommt, ist von Gott, noch nicht einmal alles das, was uns zunächst von Gott zu kommen scheint. Aber unser Gefühl, unsere innere Wahrnehmung ist äußerst wichtig für unseren Glauben, denn auch auf diesem Weg kommuniziert Gott mit uns, und wenn wir uns dafür verschließen, haben wir es richtig schwer, Ihn zu verstehen.

gepostet von Nathanael